Die Antwort ist unbequem:
Der Spatz stirbt nicht aus – wir schaffen ihn ab.
Spatzen sind keine Waldvögel.
Sie nisten nicht in Bäumen, nicht in Hecken, nicht in Sträuchern.
Sie brauchen Mauerritzen, Nischen, alte Dachziegel, Spalten in Scheunen oder Ställen – Strukturen, die fast nur in der Nähe von Menschen existieren.
Deshalb heißen sie Haussperlinge.
Sie leben in Kolonien, sind anpassungsfähig, ernähren sich im Winter von Körnern und Samen, im Sommer zusätzlich von Insekten für die Jungen.
Doch all diese Anpassung hilft ihnen nichts, wenn sie keinen Ort mehr finden, an dem sie sicher brüten können.
Wenn das Zuhause verschwindet.
Stellt euch ein Haus aus den Sechzigern vor: alte Ziegel, kleine Lücken unterm Dach, eine leicht abstehende Regenrinne.
Genau dort lebt seit Jahren eine Spatzenfamilie.
Sie brütet, sie füttert, sie zieht Junge groß.
Jeden Frühling kehrt sie an dieselbe Stelle zurück.
Spatzen sind treu zu ihrem Standort.
Und dann – plötzlich – steht ein Gerüst da.
Das Dach wird erneuert, Dämmplatten werden angebracht, jede Ritze sorgfältig verschlossen.
Weil es Vorschrift ist.
Weil es der Umwelt hilft.
Weil man Energie sparen will.
Doch das ist kein Einzelfall.
Es passiert überall.
Haus für Haus, Straße für Straße.
Dächer werden saniert, Solaranlagen installiert, Fassaden gedämmt, Fenster ersetzt – und jede Fuge, jede Spalte, jede Nische konsequent zugeklebt.
Mit jeder Sanierung verschwindet ein kleines Stück Leben.
Die Spatzen kommen zurück – und finden: nichts.
Kein Loch, keine Ritze, keinen vertrauten Eingang.
Sie fliegen Suchrunden, landen auf dem Gerüst, schauen in jeden Spalt.
Sie verstehen nicht, was passiert ist – und fliegen weiter.
Vielleicht zum Nachbarn.
Aber dort ist längst alles dicht.
Und wenn irgendwo doch noch ein alter Vorsprung existiert, ist er besetzt.
Andere Spatzen verteidigen ihn mit aller Kraft.
Denn Spatzen teilen ihre Brutplätze nicht.
Am Ende bleibt ein heimatloses Paar zurück.
Tagelang suchen sie.
Straßen entlang, Mauern, Garagen.
Doch ihre Welt ist glatt geworden.
Glatt, sauber, modern.
Und ohne Platz für Spatzen.
Dann passiert etwas, das niemand bemerkt:
Sie brüten nicht.
Nicht dieses Jahr. Vielleicht nie wieder.
Sie leben weiter – aber sie ziehen keinen Nachwuchs mehr groß.
So stirbt eine Kolonie langsam aus.
Nicht durch Kälte, nicht durch Krankheiten, nicht nur wegen fehlender Insekten.
Sondern weil die Strukturen verschwinden, die ihre Kinderstube waren.
Spatzen sind Gebäudebrüter – und Gebäude bieten keinen Raum mehr.
Sie nisten in Mauerspalten, unter Ziegeln, in kleinen Hohlräumen alter Häuser.
Aber genau diese Orte dichten wir heute systematisch ab.
Und es betrifft nicht nur alte Gebäude.
Neue Häuser sind von Anfang an so konstruiert, dass es keine einzige Nische mehr gibt.
Schaut euch um. Wie viele Blumenkästen enthalten noch Samenpflanzen, die Insekten anziehen?
Wie viele Vorgärten sind noch echte Gärten und nicht Steinflächen?
Wie viele Balkone bieten Nahrung für heimische Insekten – statt nur dekorativer Blüten ohne Nutzen?
Unsere Städte bestehen mehr und mehr aus glatten Fassaden, ohne Vorsprünge, ohne Lücken.
Oben glänzen Solaranlagen – Doch darunter hat kein Vogel Platz.
Wir dämmen, sanieren, optimieren. Und während wir stolz auf unsere Ökobilanz schauen, verlieren wir lebendige Vielfalt.
Warum trifft es die Spatzen besonders hart?
Meisen kommen klar.
Sie sind Waldvögel, brüten in Bäumen und ziehen weiter, wenn es nötig ist.
Spatzen nicht. Ein Spatz wählt kaum einen Baum zum Brüten.
Und er bleibt seinem Standort fast immer treu.
Er ist viel stärker auf uns angewiesen.
Die Zahlen sind dramatisch.
Seit den 1980ern ist die Spatzenpopulation in Deutschland um die Hälfte zurückgegangen.
In manchen Städten fehlen drei von vier Spatzen.
Europaweit sprechen Forscher von über 200 Millionen verschwundenen Vögeln.
Bauvorschriften.
Steingärten.
Insektenschwund.
Und eine Welt, die keine Unvollkommenheit mehr zulässt.
Während wir die Welt retten wollen, zerstören wir ihre.
Das ist kein Schicksal.
Das sind wir. Warum redet kaum jemand darüber?
Weil es unbequem ist.
Weil man lieber Katzen, Wetter oder „die Natur“ verantwortlich macht, statt ehrlich hinzusehen:
Der Spatz stirbt nicht aus.
Wir schaffen ihn ab. Was wir tun können.
Niemand muss Löcher in die Wand bohren.
Aber schon einfache Maßnahmen helfen:
Bei Renovierungen: Ritzen und Einfluglöcher nicht einfach verschließen – sondern ersetzen durch Spatzen-Niststeine oder spezielle Dachziegel mit Einflugloch.
An Nebengebäuden: Mehrfach- oder Kolonienistkästen an Carports, Schuppen, Garagen.
Windgeschützt aufgehängt.
Unter Dachvorsprüngen: Mehrere einfache Holz-Nistkästen nebeneinander.
Auf Balkonen: Auch kleine Kästen funktionieren, wenn sie geschützt hängen.
Begrünte Wände: Efeu, Wilder Wein – Schutz + Insekten = Futter für Junge.
Im Garten: Heimische Pflanzen statt steriler Ziersträucher:
Kornblumen, Sonnenblumen, Hirse, Brennnesseln, Löwenzahn.
Kleine Wasserstelle.
Pflanzenstände über Winter stehen lassen.
In Wohnanlagen: Unauffällig angebrachte Gemeinschaftsnistkästen an Garagen oder Geräteschuppen.
Jede kleine Nische zählt.
Quelle: Unser Planet
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